Wer sind die Ungarndeutschen? II

 
Als Ungarndeutsche bezeichnet man jene auslandsdeutsche Volksgruppe, die in Ungarn nach den Grenzen des Trianoner Friedensvertrages (1920) beheimatet war.

Bei der letzten Volkszählung, die vor der Vertreibung im Jahr 1941 durchgeführt wurde, gaben 477.000 Personen deutsch als Muttersprache an (5,1 % der Landesbevölkerung) und 303.000 Personen bekannten sich zur deutschen Nationalität.

Der weitaus überwiegende Teil lebte auf dem Lande in vier mehr oder minder zusammenhängenden. Siedlungsgebieten, und zwar (Personen mit deutscher Muttersprache):

in der sog. Schwäbischen Türkei (Komitate Baranya, Tolna und Somogy) 182.600 Personen
in der Hauptstadt Budapest und im Ungarischen Mittelgebirge (Ofener Bergland, Schildgebirge, Bakonyer Wald) 165.600 Personen
im Gebiet zwischen Donau und Theiß (Batschka. und Banat) 57.900 Personen
in Westungarn (Komitate Gyõr-Moson-Sopron) 51.100 Personen
übrige Gebiete (in Streusiedlungen) 19.800 Personen
Unter Berücksichtigung von Ungenauigkeiten dieser Volkszählung gehen seriöse Schätzungen von insgesamt etwa 600.000 Ungamdeutschen für das Jahr 1940 aus.

Schon seit der Staatsgründung Ungarns durch König Stephan dem Heiligem um das Jahr 1000 kamen Deutsche ins Land. Die Geschichte der West-ungarndeutschen reicht sogar bis zur Zeit Karls des Großen zurück (nach 800). Weitere Gruppen wurden in verschiedenen Epochen während des Mittelalters zum Aufbau des Landes gerufen. Besonders zahlreich waren die Kolonisten, die nach der Befreiung des Landes von der Türkenherrschaft vorwiegend im 18. Jahrhundert in drei Schüben, den sog. Großen Schwabenzügen ins Land geholt wurden. Deren Nachkommen bilden die Mehrheit der Ungarndeutschen. Diese nahezu tausendjährige aufbauende Völkerfreundschaft wurde durch die Vertreibung eines Großteils der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg zerstört.

Noch vor dem Kriegsende wurden zur Jahreswende 1944/1945 etwa 65.000 arbeitsfähige Ungamdeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Nach ungarischen Angaben fanden dort etwa 16.000 von ihnen den Tod. Ebenfalls noch während des Krieges ordnete die ungarische lnterimsregierung im Rahmen der Bodenreform die Enteignung des landwirtschaftlichen Besitzes, einschließlich der Wohngebäude und des Inventars der deutschstämmigen Bevölkerung an und forderte von den Siegermächten deren Vertreibung aus dem Lande, was im Potsdamer Abkommen vom August 1945 auch genehmigt wurde.

Die erste demokratisch gewählte ungarische Regierung bestimmte in einer Verordnung vom 22. Dezember 1945 unter dem Vorwand der Kollektivschuld die Vertreibung der Ungarndeutschen, die bei der Volkszählung von 1941 entweder deutsch als Nationalität oder deutsch als Muttersprache angegeben hatten. Damit waren etwa 90% von Heimatverlust bedroht. Im Januar 1946 begannen die ersten Aussiedlungen in die amerikanisch besetzte Zone Deutschlands (Länder Hessen, Württemberg-Baden und Bayern), bis die Militärregierung ab dem 1. Dezember 1946 die Übernahme weiterer Transporte verweigerte. In einem Bericht der Ministerpräsidenten der amerikanischen Besatzungszone von 1947 wird die Zahl der aus Ungarn aufgenommenen Deutschen auf 176.000 beziffert.

Auf Ersuchen der ungarischen Regierung an die UdSSR wurde die Übernahme von weiteren 50.000 Ungarndeutschen in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands

genehmigt und ab 1947 bis Sommer 1948 gingen die Transporte dorthin. Insgesamt wurden rd. 49.306 Personen in die Sowjetische Besatzungszone, darunter 46.324 nach Sachsen, vertrieben. Viele flüchteten von hier in die Westzonen, einigen gelang es auch, in die Heimat zurückzukehren.

Für 1950 ergibt sich schließlich das folgende Bild: insgesamt lebten 210.000 ungarndeutsche Vertriebene außerhalb ihrer Heimat, davon 175.000 in der Bundesrepublik Deutschland, 10.000 in der DDR, 20.000 in Österreich und 5.000 in überseeischen Ländern, hauptsächlich in den USA und in Kanada. Von den in Deutschland ansässigen Vertriebenen lebten etwa 150.000 Personen in Baden-Württemberg. Von 1950 bis 1999 kamen 21.400 Ungarndeutsche als Aussiedler in die Bundesrepublik Deutschland. Die in Ungarn verbliebene Zahl der Ungarndeutschen wird mit 220.000 Personen angegeben, die bei Ächtung ihrer Muttersprache in Schule, Öffentlichkeit und Kirche während der 50-er Jahre in ihren Nachkommen zu einer „stummen Generation“ heranwuchsen, die in ihrer Mehrzahl weder ihre Muttersprache beherrschen noch das Bewusstsein des Ungarndeutschtums haben. Von den ehemals 300 deutschen Mehrheitsgemeinden Verblieben nur noch sieben.

Von der sozialistisch-kommunistischen Parteiherrschaft wurde in den 50-er Jahren ein Verband der ungarndeutschen Werktätigen etabliert, der neben seiner vorrangig ideologischen Zielstellung zur Einbeziehung der Ungarndeutschen in das „sozialistische Aufbauwerk“ aber auch die Kenntnis von der Existenz einer deutschen Volksgruppe im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit bewahrte. Das Ergebnis dieser Nationalitätenpolitik war, dass bei der Volkszählung 1990 nur noch 37.500 Personen deutsch als Muttersprache und 30.800 Personen deutsch als Nationalität angaben.

Nach dem Systemwechsel 1989/1990 bildeten sich im Gefolge der Demokratisierung des öffentlichen Lebens zahlreiche ungarndeutsche Gruppierungen und im Jahr 1998 etablierten sich 257 Minderheitenselbstverwalt​_​_ungen. 30 Ungarndeutsche wurden 1998 sogar zu Bürgermeistern gewählt. Das Grundproblem des dauerhaften Erhalts der ungarndeutschen Minderheit, der ausreichende schulische Unterricht in der Muttersprache, konnte noch nicht befriedigend gelöst werden.

Die nach Westdeutschland vertriebenen Ungarndeutschen haben tatkräftig am Wirtschaftswunder mitgewirkt. Sie bewahrten, sobald die Möglichkeiten gegeben waren, in Heimatortsgemeinschaften den Zusammenhalt und bildeten ungarndeutsche Landsmannschaften. Die in die DDR gelangten Vertriebenen hatten in der Öffentlichkeit keine Möglichkeit zur landsmannschaftlichen Betätigung. Aber auch sie haben die Verbindungen zur alten Heimat nie abreißen lassen.

Anlässlich des 50-jährigen Gedenkens an die Vertreibung wurden viele Gedenksteine und Gedenktafeln in Deutschland und in Ungarn gestiftet. Allein in Baden-Württemberg wurden auf Initiative der Heimatortsgemeinschaften über 100 Patenschaften zwischen baden-württembergischen und ungarischen Städten bzw. Gemeinden sowie über 180 Schulpartnerschaften ins Leben gerufen.

Die Ungarndeutschen verband mit den Banater und Sathmarer Schwaben aus Rumänien und den Schwaben aus Jugoslawien ein gemeinsames Schicksal im historischen Ungarn bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Sie verstehen sich deshalb auch als Teil der Volksgruppe der Donauschwaben. (Siehe dazu auch den Artikel: Die Donauschwaben!)

[nach Dr. Paul Ginder und Josef Brasch, ergänzt von Dr. Emil Magvas, 31.07.2000]